Zwangsläufig – oder zwanghaft?


Bericht von Siglinde Broich-Bernt, Heidenheimer Zeitung vom 10.05.2017 17:10 Uhr


Neutag erforschte in der ARCHE seine deutschen Artgenossen und deren oftmals eigentümlichen und erstaunlichen Verhaltensweisen.


„Schnaps, Schnäppchen, übergeschnappt?“ In der ARCHE dachte der preisgekrönte Kabarettist Jens Neutag über Deutschland, die Deutschen und deren, bei genauerem Hinsehen, manchmal befremdliches Verhalten nach.
„Schnaps, Schnäppchen, übergeschnappt?“ In der ARCHE dachte der preisgekrönte Kabarettist Jens Neutag über Deutschland, die Deutschen und deren, bei genauerem Hinsehen, manchmal befremdliches Verhalten nach.

Unter den preisgekrönten Kabarettisten, die bislang den Weg nach Dischingen fanden, ist er der Neue – darüber hat Jens Neutag wohl selbst am meisten gestaunt. Womit einzig und allein die Strecke gemeint ist, die dann irgendwann in den kleinen Ort auf dem Härtsfeld führt. Angekommen ist auch er. Physisch und inhaltlich.
Jedenfalls hat er sich gleich zweimal beim Publikum bedankt, schien völlig überrascht, dass es noch Deutsche gibt, die „trotz windigen Wetters und völlig freiwillig“ an einem Sonntag ihr Sofa verlassen, um „analog“ zu sehen, zu hören und zu erleben, was es auf sich hat mit dem „Deutschland-Syndrom“.
Was ist Deutschland?
Nun, was ist Deutschland? Zunächst einmal ein freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat in Mitteleuropa, dicht besiedelt von einer ziemlich alten Bevölkerung und umgeben von neun Nachbarländern. Deutschland gilt international als das Land mit der zweithöchsten Zahl von Einwanderern nach den Vereinigten Staaten. Bei der Integration weiß Neutag Rat: „Man muss den Menschen Zeit geben, sich an uns zu gewöhnen.“ Also kurz mal das Syndrom beleuchten. Es bezeichnet eine Kombination von verschiedenen Krankheitszeichen, die meist gleichzeitig und gemeinsam auftreten
Im Falle des .Deutschlandsyndroms gehört an erster Stelle der Bluthochdruck genannt. Die Volkskrankheit bricht aus, weil. und wenn der Benzinpreis steigt, die Bahn nicht pünktlich ist, bei „Wetten dass?“, etwas schief läuft. Dann protestiert der Deutsche. Mittlerweile gerne online. Sagt Neutag. Der Deutsche liebt den Einkauf via Online. Und schüttelt über Leerstände in seiner Stadt den Kopf. Nichts macht ihn glücklicher als ein Schnäppchen. Behauptet jedenfalls Neutag und befindet: „Schnaps, Schnäppchen, übergeschnappt.“
Dann ist da natürlich die Ordnungsliebe. Jeder Dübel hat sein Fach, jedes Blatt seine DIN-Größe, keine Ausnahme ohne Regel. Neutag: „Es gibt wahnsinnig viele und viele wahnsinnige Gesetze.“ Werner Koczwara aus Schwäbisch Gmünd, Ende April mit dem Kleinkunstpreis von Baden-Württemberg ausgezeichnet und nicht nur hier in der Region als „Erfinder des juristischen Kabaretts“ bekannt, füllt ganze Abende mit diesem Thema. Dem Deutschen liegt die Gesundheit am Herzen; und so joggt er durch die Landschaft, oder er walkt zumindest. Von Waldlauf und Wanderung ist hierzulande schon lange keine Rede mehr. Nordic Walking also mittlerweile mit Helm, damit der deutsche Freizeitsportler beim Sturz keinen Schaden erleidet, denn das „Sicherheitsdenken grenzt schon an Sicherheitswahn“.
Auch klar: Der Deutsche sorgt gerne vor. Darum trägt er beim Dauerlauf einen Getränke gürte l um den Bauch, den Schrittzähler um den Knöchel, das Smartphone am Oberarm- Dient ja alles der Kontrolle.
Disziplin, die schadet nicht. Man erinnere sich: Wir sind Weltmeister! Wir sind Papst! Wir sind Weltbürger! Aber Burka? Burka sind wir nicht, obwohl Jens Neutag eine Ganzkörperverschleierung am FKK-Strand mitunter für durchaus empfehlenswert hält.
Will der Deutsche nicht gesehen werden, dann baut er. Mit Vorliebe Zäune, die als Sichtschutz dienen. Zäune ums Grundstück, und den Garten herum, um den Wohnwagen, der seinen festen Platz in einer Campinganlage hat. Der Deutsche legt nämlich hier die Betonung auf Wohnen und nicht auf Wagen, was ihn ganz entschieden von seinem holländischen Nachbarn unterscheidet – Fußball war nicht unbedingt ein Thema für. Jens Neutag.
Putins Gasableser
Über Hoeneß hat er dennoch gesprochen, über Seehofer, den „Alpen-Ayatollah“, über Schröder, den „Gasableser von Putin“, freilich über Angela Merkel. „Seit Jahren. wird über sie gemeckert, aber gewählt wird sie doch.“ Selbst dafür hat Neutag Gründe gefunden: „Die Bundeskanzlerin sagt nix, macht nix, darauf kann man sich hundertprozentig verlassen.“
„Anarchie“, so hat der Kabarettist festgestellt, „ist nicht die Kernkompetenz der Deutschen.“ Und fordert auf: „Wir müssen wieder lernen, gegen Regeln, zu verstoßen.“
Neutags Anleitung zum Ungehorsam: „Mal den Müll einen Tag zu früh rausstellen.“
Nach zweimal 50-minütigem Auftritt muss Neutag der Finger geschmerzt haben, den er in alle Wunden legte, den seine Landsleute ihm bieten, ihm, dem das Verständnis fehlt, warum jeder nach „Coffee to go“ giert („Der Kaffee war zufrieden, als er nur stand“). Der Gang mit dem Becher erinnere zudem an den Gang zur Abgabe einer Urinprobe.
Mit Volldampf (so auch der Titel des neuen Programms) wurden am Sonntag Stationen angefahren, an denen der Mensch, wenn er „typisch deutsch“ ist, fast zwangsläufig (oder zwanghaft?) anhält. Dazu gehört in der Zukunft die Erfindung eines pränatalen Schwimmreifens für Embryos (Sicherheitswahn) und das Liegen im Moorbad, um sich schon einmal an die feuchte Erde zu gewöhnen (Sicherheitsdenken). Spaßig klingt das nicht. Aber will das klassisches Kabarett überhaupt sein? Gleich. mal nach einer Begriffsbestimmung suchen.