Kabarett, Lieder, Dias


Bericht von Niklas Junkermann vom 08.11.2022 00:00 Uhr


„Heizt ihr schon“, fragt Jess Jochimsen die gut 100 Besucherinnen und Besucher in der Dischinger Egauhalle. Es ist Sonntagabend, 18 Uhr, November. Es soll nicht das letzte Mal an diesem Abend sein, dass er diese Frage stellt. Überhaupt richtet Jochimsen über die kommenden zwei Stunden verteilt sehr viele Fragen an seine Gäste, die auf Einladung der „Kultur in der ARCHE- on Tour“ zusammengekommen sind.

Foto: Siggi Feil

Nach der humorvollen Einführung von Inge Grein-Feil, „Freunde“-Vorsitzende, macht es sich Jochimsen mit allerlei Musikinstrumenten und einer Schulbank mitsamt passendem Stuhl auf der Bühne gemütlich. Die aktuellen Themen sind allen Anwesenden natürlich bekannt, doch die Art und Weise, wie der Kabarettist durch die Weltlage führt, regt nach dem Lachen schon bald zum Innehalten und Nachdenken an. Seiner anfänglichen Frage folgt sogleich die nächste: Wann wird es endlich wieder normal? Die entscheidende gedankliche Wendung hierbei ist die weitergehende Frage, wann es denn jemals normal gewesen sei.

Alle Nachrichten, die aktuell die Zeitungen beherrschen, Corona, die Ukraine und die Energiekrise werden auf brillante Weise von Jochimsen auch musikalisch verarbeitet. Mit einem virtuosen Akkordeon-Auftritt sorgt er für eine heitere Stimmung in der Halle und wendet sogleich den Blick auf mittlerweile gängige Small Talk-Themen wie den Impf-Status und die deutsche Fixierung auf Zahlen. Überhaupt wird es überraschend mathematisch als der Kabarettist den Gästen die Prinzipien des Kürzens und Umkehrens wieder in Gedächtnis ruft, die vielen noch ein Begriff aus der Schulzeit sein sollten. Ein zentraler Kritikpunkt an den gegenwärtigen Debatten ist für ihn der vielerorts mangelnde mathematischer Verstand. Auch die numerischen Größen Reichtum und Armut seien letztendlich reine Mathematik.

Jochimsen versteht es meisterhaft, wortwörtlich auf einer breiten Klaviatur der Unterhaltung zu spielen. Mit kurzen Xylophon-Einlagen, Gitarren- und wieder Akkordeonspiel sowie einem Feuerwerk flotter Gedanken und Reflexionen steigert er rasant das Tempo. Die Gefahren des Populismus sind schon lange bekannt, doch in Jochimsens Erzählungen werden sie plastisch. Mit einem Verfehlen der Kernthemen und einem unzulässigen Vereinfachen wird dieser von ihm treffend charakterisiert. Der vielfach ausgezeichnete Kabarettist verknüpft seine Warnung vor Populismus mit einer sachten Religionskritik und schont in dem Zusammenhang vor allem die amerikanischen Ausprägungen öffentlichen Betens gegen Corona nicht.

Ungeahnte Höhepunkte der Unterhaltung, die das Publikum unvermittelt in Unbehagen versetzen, sind Jess Jochimsen Live-Abstimmungen der Sonntagsfrage zur Bundestagswahl sowie die unverblümte Frage „Seid ihr reich?“. Was zunächst leicht zu verstehen erscheint, entpuppt sich sehr schnell als tiefgreifende philosophische und wiederum mathematische Frage. Zwar kommt es nicht tatsächlich zu antworten, aber das bloße Nachdenken über die gestellten Fragen erfüllt seinen Zweck.

Ein Fazit des Abends kann sein, dass die Gesellschaft frei nach den bekannten Filmen „Zurück in die Zukunft“ gehen soll – und nicht „Vorwärts in die Vergangenheit“. Die Angst vor Veränderung und vor dem Neuen ist ein vielfach verwendetes Motiv in Jochimsens Bühnenprogramm. Die Verbindung zwischen Humor und Traurigkeit zeigt sich abschließend sehr plakativ in einer Diashow, die der Kabarettist vorführt. Eine Galerie der traurigen Dinge, die vor allem eines bewirkt: Ein Lachen, das dem Publikum im Hals steckenbleibt.