Freude ist nur ein Mangel an Information


Bericht von Jens Eber/Heidenheimer Zeitung vom 21.01.2013 06:00 Uhr


„Darf man über Depression Witze machen?“, fragte Kabarettist Nico Semsrott am Sonntagabend im Heidenheimer Naturtheater und gab auch gleich eine fast wütend klingende Antwort: „Man muss! Depression ist Mist!“



„Die Zufriedenen sind das Problem“: Nico Semsrott gab seine Visitenkarte bei Kultur in der ARCHE ab.


Es konnte einem der Atem stocken, immerhin beging der 26-jährige Hamburger da einen doppelten Tabubruch, spottete über vermeintlich Schwächere und zog eine Krankheit ins Scheinwerferlicht, die die Gesellschaft doch lieber im Dunklen lässt, weil ihr der Makel der Schwäche anhaftet.

Schnell zeigte sich in Nico Semsrotts Programm aber, dass er eine ganz andere Absicht verfolgt. Ja, er zieht Depression ans Licht – nämlich um ihre in der modernen Gesellschaft liegenden Wurzeln zu beleuchten. Mehr noch: Der junge Mann, der nahezu erstarrt auf der Bühne steht, aus blauen Augen ins Ungefähre blickt und am Bund seines Kapuzenpullis nestelt, begegnet der Depression als Insider. „Ich war wirklich depressiv“, erklärte Semsrott vor einiger Zeit in einem Interview.

„Wir sind als Gesellschaft depressiv“, sagte Semsrott an einer Stelle seines Programm „Freude ist nur ein Mangel an Information“. Das Schlimme an dieser Form „politischer Depression“ sei, dass man sie bei vollen Bewusstsein ertragen müsse. „Immer lächeln, sonst kann man sich nicht verkaufen“, sei die Devise. Dabei dürfe der Mensch im Sinne des „Profitmaximierungsweltbilds“ bloß nicht vergessen, die unter ihm Stehenden zu treten. Der Urmensch habe stets nur zwei Möglichkeiten gehabt, behauptet Semsrott, heute gebe es eine Unzahl an Handlungsoptionen. „Der moderne Mensch ist überfordert, deshalb ist er traurig“, lautet seine Diagnose.

Was bei dieser vom Dischinger Kreis „Kultur in der Arche“ veranstalteten Abend zu sehen und zu hören war, war im Kern knallhartes politisches Kabarett, allerdings kein herkömmlicher Lagerkampf. Semsrott nimmt die Gesellschaft als Ganzes und unterzieht sie einer gründlichen Anamneseerhebung. „Die Zufriedenen sind das Problem, die Unzufriedenen wollen Veränderung“, sagt er. Mit anderen Worten: Die vermeintlich Schwachen, eine zahlenmäßig immer größere Gruppe, sind es, die die Fehler im System überhaupt erkennen. Ob das erwünscht ist? Wohl kaum: „Konformität war in Deutschland schon immer eine wichtige Sozialkompetenz.“

Dass Nico Semsrott dabei mit gespielter antriebsloser Wurstigkeit auf der Bühne steht und nur resigniert abwinkt, wenn  – natürlich kalkuliert – eine Pointe wirkungslos verpufft, ist nur eine glänzend dargestellte Fassade. Immerhin führt das unaufhörlich Grübeln und Gedankenkreiseln à la Semsrott zu beeindruckender Klarsicht und beklemmenden Diagnosen. Beispiel Bildung: „Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Menschen am besten mit Spaß lernen, aber wir setzen auf Noten, Erpressung und Angst.“

Nichts an Semsrotts Kabarett ist krachledern, kaum einmal ist es populistisch. Vielmehr besitzt der Künstler die sprachliche Brillianz für knochentrockene und originelle Wortspiele und präzises Verdichten komplexer Themen. Und weil er in seinem Vortrag sogar auf dramatisierende Dynamik verzichtet, bleibt es dem Zuhörer überlassen, so manche messerscharfe Pointe selbst zu erkennen. Lernen durch Erkenntnis – nicht die schlechteste Methode.

Die Grenzen zwischen Information und Überspitzung sind dabei fließend – und manchmal entpuppt sich Absurdes als Fakt. Wie oft das Wort „Liebe“ im Grundgesetz vorkomme? „Einmal“, sagt Semsrott, „im Wort Kriegshinterbliebene.“

Für die Dischinger Kulturschaffende ging das Wagnis auf, mit der „Arche on Tour“ zu gehen, um dieses Mal verstärkt  Jugendliche anzusprechen, wie „Freunde schaffen Freude“-Vorsitzende Inge Grein-Feil sagte. Der Theatersaal auf dem Schlossberg war gut gefüllt, und nach der letzten Zugabe musste Semsrott bis kurz vor der Abfahrt seines Zuges Autogramme schreiben.