Twitternde Mädchen


Bericht von Elena Kretschmer, Heidenheimer Zeitung vom 27.01.2016 13:11 Uhr


Kabarettist Nils Heinrich erzählt aus seinem präzise beobachteten Alltag und besingt dessen Absurditäten


Kabarettist Nils Heinrich mit seiner Klappgitarre namens Justin.
Kabarettist Nils Heinrich mit seiner Klappgitarre namens Justin.

Von der Bühne direkt ins Fernsehen – das schafft wohl nur Nils Heinrich. Denn am Sonntagabend hatte der Kabarettist und Buchautor nicht nur einen Auftritt in Dischingen, sondern auch noch bei 3Sat im Fernsehen (natürlich nicht live). Aufgrund des angeblichen Zeitdrucks schwang er sich also auf die Bühne der Kultur-Arche und spielte sich sofort auf seiner Klappgitarre na­mens Justin ein. Heinrich beschrieb sie liebevoll als „eine Mischung aus Hackbrett und Klei­derbügel“. Den ganzen Abend über unterhielt er den restlos gefüllten Saal mit eigenen, mitunter fast absurden, aber auch nachdenklich-scharfzüngigen Texten über die Merkwürdigkeiten der heutigen Gesellschaft. Mit manch vorhersehbarer Pointe, aber dennoch viel Witz, ausgeklügelten Erzählungen und Liedern sorgte Heinrich für viele Lacher.

Gekonnt bezog der gelernte Konditor das Publikum in seine Welt mit ein. Die vorgetragenen Geschichten und Lieder erwiesen sich allesamt als höchst heiter, ironisch und skurril. Alles, was Heinrich im Alltag ganz präzise beobachtet, plauderte er vor den Zuschauern aus. Doch der sonst als herrlich entspannter Zeitgenosse beschriebene Kabarettist wurde zwischendurch ziemlich laut, und auch an Gelassenheit schien es hier und da gewollt zu fehlen. Das mag zum einen an seinem Nachwuchs „aus eigener Produktion“ liegen, zum anderen vielleicht  auch  daran, dass Man(n) mit Mitte 40 sein Ziel erreicht hat. Vor allem, wenn seit Kurzem ein Helene Fischer verehrender Syrer im Wohnzimmer wohnt, vor dem Heinrich nur beim Supermarkt um die Ecke beim Litschis-Umsortieren Ruhe findet.

Bei den Hobbys ist der Berliner kreativ. Seine neueste Freizeit­beschäftigung: Online-Rezensionen verfassen. Traumatisiert von zwei Sternen, die er auf Amazon für sein neues Buch kassiert hat, schlägt er zurück. Sein erstes Objekt der Rache: Margarine. Als sein persönliches Meisterwerk bezeichnet Heinrich allerdings seine Kritik zu Goethe. Seit der Schulzeit hegt Heinrich einen Groll gegen ihn und bringt ihn nun dadurch zum Ausdruck, dass er den großen Dichter mit Tony Marshall vergleicht, der das alles schließlich viel besser macht.

Von der Musik geht es weiter zum Bäcker. Dort wohnte der gebürtige Sachsen-Anhalter einen höchst absurden Verkaufsdialog bei, bei dem es um Jesus, Kuchen auf Facebook und Wespen geht. Den Vorfall erlebte Heinrich aber nur deshalb, weil er kurz dem hektischen Alltag entfliehen wollte, in den neuerdings ein „neuer Arbeitgeber“ getreten ist. Seine Geschichten von diesem „rucksack-großen Fleischklops, der aus Milch Scheiße macht“, las er immer wieder aus seinem „Zweipad“, der neuesten Version des Ipads, auch „Buch“ genannt, vor. So verlas Heinrich, dass seine Frau und er sich das „Terrorisierenlassen aufteilen“, denn mit so einem „quiekenden Leberkäse“ habe man es als junger Vater nicht immer leicht.

Dass er nicht nur „vorlesen“, singen und plaudern, sondern auch Rappen kann, bewies der 45-Jährige mit seiner Hip-Hop-Hymne über Bad Harzburg. Mit dieser möchte er der Gentrifizierung entgegenwirken und mehr Leute dazu bewegen, wieder zurück aufs Land zu ziehen. Eher grotesk bei einem Auftritt im beschaulichen   Dischingen,   was Heinrich auch schnell selbst klar wurde. Doch auch mit seinem „coffee to stay“ holte er das Publi­kum ab und erntete Beifall.

Gegen Ende erfuhr dann auch der Laie, warum das Programm eigentlich „Mach doch ’n Foto davon“ heißt. Ganz egal, ob auf der Party, der Jagd, im Aquarium, im Sarg oder wenn man sich bückt:

Hauptsache man drückt! Und zwar den Auslöser der Kamera, um jeden Moment in Fotos und Selfies festzuhalten. Um andere darauf hinzuweisen, wovon sie ein Foto machen sollen, konnte jeder nach dem Auftritt Buttons und Aufkleber mitnehmen.

Als krönender Abschluss besang der Berliner noch „Twitternde Mädchen“, die aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken sind. In scharfsinnigen Reimen fasste er zusammen, was alles passieren kann, wenn „die Daumen auf Glas rummorsen“ und man zum „Smombie“, also Smartphone-Zombie, mutiert. Am Ende twittern alle: Piloten, Lehrer, Bankräuber, Lokführer, Putzfrauen, Feuerwehrmänner,  der Papst, Metzger und Bestatter. Fluch und Segen der heutigen Gesellschaft, für die Nils Heinrich einiges prophezeit: Rentner-Gangs werden mit maschinengewehrgespickten Rollatoren Drogeriemarkt-Filialen überfallen, die NSA findet endlich heraus, was Grönemeyer mit seinen Liedern sagen möchte – oder ein Dschungel-Camp-Sieger wird Bundespräsident.

<xml> </xml>