„Selfie“


Bericht von Margit Stumpp vom 03.10.2016 19:44 Uhr


Mathias Tretter begeistert mit seinem aktuellen Programm in der Arche







Gewaltiger Auftritt mit Wagner, fast zu mächtig für die kleine, voll besetzte Arche. Aber es wird sofort klar, um was es Mathias Tretter mit seinem Programm „Selfie“ geht, um das Wichtigste: „ich“. Der fliegende Holländer liefert das Stichwort fürs Wortspiel und damit den roten Faden um die Zustandsbeschreibung unserer Zeit: wenn schon Apokalypse, dann zuvor Apotheose, manchmal verkörpert im Apotheker.

Die Erhebung zum Halbgott, Tretter findet genügend Beispiel im hiesigen Umfeld.

Von der Doppelfunktion des Passbildautomaten über das olfaktorische Trauma, dass sich vom ehemals durchlittenen Sportunterricht bis in die Umkleide des Kieser-Trainings zieht, geht’s über die neurologischen Folgen jahrelanger Merkelparodie „Mutti-Mund“ zum Do-it-yourself-Ableben islamistischer Selbstmordattentäter.

Tretter spielt mit Worten und Bildern, um die Absurditäten der Egozentrik angesichts ernsthafter Bedrohungen aufs Korn zu nehmen. So lässt er Seehofer zum tapetenknabbernden Hamster mutieren, den man darob schimpft, während im dritten Stock das Haus brennt.

Während es weltweit noch nie so viele Flüchtlinge gab, sowie 1,3 Millionen Chinesen und 1,2 Millionen Inder, die unseren Lebensstandard wollen und den CO2-Ausstoß in nie gekannte Höhen treiben und es weltweit immer noch eine Milliarde Hungernde und 45 Kriege gibt, sammeln sich in deutschen Küchen Austernmesser, elektrische Pfeffermühlen und Balsamicosprayer. Dies, Gipfel der Absurdität, obwohl maximal einmal im Monat gekocht wird. Vom grünen Wachstum über die deutsche Identitätskrise geht’s in leichtem Plauderton zur Perversität des Flüchtlingsrankings und dem mangelnden Integrationswillen der Schwaben in Berlin.

Den roten Faden manchmal außer Acht lassend, aber nie ganz aus den Augen verlierend, schlägt Tretter den Bogen von der Trostlosigkeit ostdeutscher Provinz, die er durch die Belebung mittels hoher Ansiedlungszahlen von Flüchtlingen und in Folge dessen einer eigenwillige Neudefinition von „Grundrechten“ bekämpfen will, über die Herausforderungen moderner Elternschaft bis hin zu den Zwängen des Zeitgeistes.

Immer wieder nutzt der Kabarettist sein schauspielerisches Talent, um im fiktiven Austausch mit seinen Freunden Rico, dem werbetextenden Freelancer aus Sachsen und Ansgar, dem arbeitslosen Akademiker aus Franken den Zeitgeist aufs Korn zu nehmen.

Derweil Ersterer genau einzuschätzen weiß, in welcher Dekade welche Krankheit „hip“ war, scheitert Letzterer als Gründer einer Patch-Work-Religion. Mit dem achtfachen Pfad hin zu den 5 Säulen der Dreieinigkeit und Joga gen Mekka am Sabbat hätte der den Zeitgeist durchaus bedienen können und damit zum Religionsgründer aufsteigen können, wenn er sein Heil mit tibetischem Dialekt nicht versehentlich auf der Erotik- statt auf der Esoterikmesse gesucht hätte.

So wird weiter sinniert über die Attraktivität der Lausitz für Aussteiger, Abiturienten, die als Handwerker die Erklärung für das Desaster um den Berliner Flughafen liefern und Hipsterkinder, die wehrlos dem Reflex ihrer Eltern „Hipster suchen sich immer das aus, was Andere zum Kotzen finden“ ausgeliefert sind.

Wie Tretter die Kulturunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland erklärt, im Westen hieß es „Stell dich nicht so an!“ im Osten „Stell dich an!“ oder per Analogie, Serben und Sorben, Keks und Koks, den wesentlichen Unterschied, den ein anderer Konsonant ausmacht, darstellt, macht deutlich: der Mensch beschäftigt sich sowohl mit den Untiefen des Alltags als auch mit den Untiefen der Sprache.

Deren Ökonomisierung gipfelt in der zeitgemäßen Bearbeitung des ersten Teils von Goethes Faust; knapp zwei Minuten reichen dem Kabarettisten, um das monumentale Werk auf diese Weise vorzutragen.

Zwei Stunden lang führt Tretter durch alle Spielarten deutscher Nabelschau, beleuchtet politische Traditionen vergangener Tage (Vertrauen durch Intransparenz) und die wohltuende Wirkung sozialer Netzwerke auf die akustische Hygiene genauso, wie die beziehungskonservierende Funktion von Shoppingmeilen und Supermarktparkplätzen.

Obwohl die durchschnittliche Aufmerksamkeitsdauer von 1,5 Minuten, die der Konzeption einer Guten-Morgen-Gute-Laune-Radioshow zu Grunde liegt, lange überschritten ist, folgt ihm das Publikum amüsiert und aufmerksam, auch oder gerade, weil der Protagonist ein paar Fossilien („Kabarettisten leben von Fossilien“) darin zu entdecken vermag.

Dazu passt, dass er gegen Ende des Programms seinen inzwischen erwachsenen Sprössling namens Fozzy-Bär (s.o.) als Moderator einer Morning-Show auf die inzwischen seit 25 Jahren amtierende Merkel treffen lässt. Kaum etwas persifliert die postdemokratische Moderne treffender, als der bemüht jugendliche Politsprech zwischen der fast greisen Kanzlerin und dem hippen Jungmoderator.

Auch die Jüngeren unterstützen beim Erklatschen der Zugabe, obwohl man ihnen erst erklären muss, wer Klaus Kinski war. Kinski, Inbegriff des Egomanen, wird von Tretter so überzeugend gegeben, dass man ihm ohne zu zögern abnimmt, mit diesem Auftreten seinen Kindern 3 Monate Heimaufenthalt eingebracht und sich selbst als Student die GEZ-Gebühren erspart zu haben. Die eine oder andere Besucherin dürfte es bei der Vorstellung, im Dischinger Nachtleben dem rotzig-grusligen alter ego zu begegnen jedenfalls ziemlich gegraust haben.

Zum endgültigen Abschluss sinniert Tretter über Islamismus mit „Apple und Säbel“ analog zu „Latzhose und Laptop“. Er interpretiert IS als „islamistische Selfies“ und führt diese Form des Terrorismus so auf testosterongetriebene Geltungssucht zurück. Wenn er Karel Gott zur Melodie von „Biene Maja“ den Trailer zu den Video-Botschaften von Bin Laden trällern lässt oder Al Kaida als „Nokia des Terrorismus“ (einst Weltmarktführer, aber dann den Zeitgeist verschlafen) bezeichnet, bleibt das Lachen fast im Halse stecken.

Mathias Tretter versteht es, elegant, eloquent, intelligent und (selbst-)ironisch über zweieinhalb Stunden eine riesige Themenvielfalt zu beleuchten und damit blendend zu unterhalten. Das erlebt man nicht jeden Abend. Wiederholung erwünscht.