Ob diese Zugnummer noch ziehen würde? Ein Mann wird aus dem Zug geworfen und kommt an, irgendwo, in einem verlassenen Nest. Das zahlreich erschienene Publikum am Freitagabend in der ARCHE blieb doch verhalten und ein wenig skeptisch ob dieses Einstiegs ins Programm „Ganz fest loslassen“, mit dem Kabarettist Holger Paetz zu Gast war.
Aber, was anfänglich schwer vorstellbar war, die Zugnummer blieb nicht stecken, sie entpuppte sich als eine echte solche im doppelten Wortsinne und nahm im Laufe des rund zweistündigen Abend rasant Fährt auf. Und das verlassene Nest – „Es gibt ja Orte in Deutschland, die gibt’s halt, ohne dass man sie kennt, es sei denn, sie kriegen einen Binnenhafen oder ein Autobahnkreuz“ – entpuppte sich als ein stimmiger Ausgangspunkt für die Gedanken eines Aussteigers oder doch zumindest Aussteigenwollenden, einem, der nun selbst smart sein will, denn viel zu lange hat er das seinem Phone überlassen.
Loslassen eben. Loslassen ist chic, liegt im Trend und wird gern gebucht als Doppelname mit Reiki-, Tai-Chi- oder Schock-Loslossen. Und, so sinniert Holger Paetz, es ist vielleicht die einzige Methode, auf die hysterische Gesellschaft zu reagieren. Und es folgt ein sprachgewaltiger Rundumschlag gegen all die drängenden Fragen der Zeit: Wie kann es sein, dass die Atombombe früher erfunden wird als ein Koffer mit Rollen? Wieso lügen Navis? Wann endlich gibt es die Waschstraße fürs Wageninnere? Woher kommt der Name Handschuhfach, wenn doch dort alles drin liegt außer Handschuhen? Wie kann ein bayerischer Papst aufgeben, wenn es doch gegen Energielosigkeit Pillen gibt? Zahlen wir jetzt den Griechen nachträglich all die scheinbar kostenlos ausgegebenen Ouzos? Wieso wird in der Bahn angekündigt, man reiche Gebäck, wenn es sich doch lediglich um Aufbackplunder aus dem Aromasack handelt? Wieso juckt es Menschen plötzlich, was sie essen? Das bisschen Pferdefleisch macht schließlich den Kohl auch nicht mehr fett.
Das Schlimmste an den in schöner Regelmäßigkeit auftauchenden Lebensmittel-Skandalen sei ohnehin das widerliche Grinsen der Vegetarier, fast ebenso unerträglich wie die Gewürzdiarrhoe des heiligen Schuhbeck. Holger Paetz, der frühere Singspiel-Autor und Guido Westerwelle auf dem Nockherberg, lässt sie explodieren, die Wut über herrschende Zustände, die Wut über Piraten, die noch-von ihrer Gründung erschöpft sind, über bayerische Toleranz, die sich im Nichtaussprechen von „Hau ab“ zeigt, über Flughafenplaner und -bauer, denen keiner sagt, dass ihr Projekt schließlich auch als Flughafen benutzt werden können muss, über Fernsehprogramme, die die schönsten einfarbigen Beete Hessens zeigen, über Browser, die selbstherrlich Feierabend machen, über Nordic Walking und 50-Meter-Joghurt-Särge in Supermärkten und das Mal-die-Klappe-Halten – „ungeheuerlich, wie die Leute das nicht können“.
Paetz wütet, wettert, singt, tanzt, schimpft und schreit und spricht mit Lust an der Sprache und Talent für vielerlei Mundarten und lässt den Zuschauer nicht mehr zur Ruhe kommen, bis zum schönen Schluss, der resignierend zeigt: Intelligenz wird geduldet, wenn sie nicht weiter stört. „Aber um Intelligenz geht‘s net“. Es geht um Cool-Sein, iPhone-Wischen, das Innerste nach außen Stülpen. Igitt. Schluss damit. iPhone wegwerfen. Ach, nein, das könnte man noch brauchen. Putzfrau kündigen. Ach nein, so eine kriegt man nie wieder. Konto kündigen. Geht nicht, zu viele Kredite und Verträge.
Aber morgen, morgen wird er ganz bestimmt loslassen und aussteigen. Vielleicht. Und mit diesem Ende hat Holger Paetz nach allen Tiraden, Tönen und Tänzen die Stimmung noch einmal umgekehrt: Der Heiterkeit, der das Publikum hier freien Lauf lassen konnte und die vielerlei köstlich zubereitete Nahrung bekam, folgte die Entlarvung der Wirklichkeit. Komisch, und wer wollte, der konnte auch darüber einfach lachen.