Wenn der Verstand Gänsehaut bekommt


Bericht von Marita Kasischke, Heidenheimer Zeitung vom 29.01.2019 08:00 Uhr


Lesung: Der Schauspieler Walter Sittler begeisterte rund 300 Zuhörer mit Texten von Dieter Hildebrandt.



Die legendäre Bahnstrecke Paris-Bratislava, da war sie wieder. Am Sonntagabend in der Gemeindehalle ließ Walter Sittler, Schauspieler und Träger des Grim­me-Preises für seine Rolle in „Nikola“, die Erinnerung an die im Zusammenhang mit der Tieferlegung des Stuttgarter Bahnhofs zum ge­flügelten Wort gewordene offizielle Begründung für die Baumaßnahmen wieder aufleben, vor allem aber die Erinnerung an den Großmeister des politischen Kabaretts:

Dieter Hildebrandt. Doppelte Prominenz also, die die ARCHE Dischingen zusammen mit der Volkshochschule Nattheim da im .Angebot hatte, und das ließen sich rund 300 Zuhörer nicht entgehen.

Walter Sittler, so die Ankündigung, liest Texte von Dieter Hildebrandt. Dass das eine Untertreibung war, merkte das Publikum rasch. Sittler hatte diese Texte derart verinnerlicht, dass sie richtig lebendig wurden, zumal manche davon ganz offensichtlich zeitlos genannt werden können. Verärgerung über die Unpünktlichkeit der Bahn bei­spielsweise: Das Thema stand bereits zu Lebzeiten Hildebrandts auf der Tagesordnung, und da steht es auch heute noch, rund sechs Jahre nach seinem Tod. Das Dudeln und Nudeln und Strudeln in Volksmusiksendungen – ein Dauerbrenner. Die fähigen politischen Figuren, für die jss keine Wähler gibt; die Dummheit, von der man nicht weiß, woher sie kommt und wohin sie geht, die sich jedoch an manchen Politikern recht eindeutig verorten lässt – alles Themen, die nichts an. Aktualität verloren haben.

Die brillanten Gedanken Hildebrandts, die Zuhörer sogen sie dankbar auf. Sittler verstand es aber auch zu gut, diese zur vollen Geltung zu bringen. So gab es ein Wiederhören mit einem Klassiker: Matthias Claudius‘ Gedicht „Der Mond ist aufgegangen“ als Rede von Helmut Kohl, angereichert mit zahlreichen der für ihn typischen Worthülsen und Floskeln, ist auch heute noch ein herrliches Vergnügen genauso wie die Abschiedsrede Herbert Wehners mit den wiederum für ihn typischen Spitzen für den politischen Gegner.

Zuckersüß und mit hinterhältigem Spott wurde das Märchen von den besseren Verhältnissen des kleinen Karl Theodor zu Guttenberg erzählt, der mit Christian Lindner als Neuauflage von „Modern Talking“ in Berlin endet. Ebenfalls ein Kabinettstückchen war das Stück Obersalzberg mit den Fundamenten der Alpenfestung, auf dem der Verein zur Pflege reaktionären Brauchtums ein Hitler-Museum eingerichtet hat, mit welchem aber das Thema Hitler unzureichend ausgelutscht ist, sodass eine 125-teilige Fernsehserie, fünf Kinofilme, drei Musicals, zwei Operetten, eine Oper und eine Gemäldeausstellung in Planung sind. „Da kriegt der Verstand Gänsehaut“, kommentierte Hildebrandt.

Und eben Paris-Bratislava. Umfragen, so zitierte Sittler Hildebrandt, haben ergeben, dass nur drei Prozent der Pariser nach Bratislava wollen. Die anderen kennen es nicht. „Wenn man die Nadel mit bloßem Auge nicht sieht, braucht man auch keinen Heuhaufen.“